Jutta Ditfurth: Die Kunst des Verrats
Gustav Uhlmann | 30.05.2011 16:50 | COP15 Climate Summit 2009 | Culture | Ecology | Gender | Cambridge | Oxford
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Jutta-Dittfurth-Collage-2011
Als ob sich ihre Anhänger Scheuklappen vors Gesicht hielten, gelingt es
den Grünen, sich bei manchen Projekten immer noch als Oppositionelle
darzustellen. Das schaffen sie sogar dann, wenn sie etwas
Zerstörerisches, Unsoziales und Unökologisches selbst ermöglicht oder
vorangetrieben haben. Und wieder einmal besteht, jetzt beim Widerstand
gegen das Projekt »Stuttgart 21« (»S21«), die konkrete Gefahr, daß sie
dem Protest den Hals brechen, solange sie nur ein bißchen
Regierungsmacht dafür bekommen. (&)
Die Kritiker von »S21« hatten es viele Jahre schwer, gehört zu werden.
1996 lehnte der Gemeinderat ihren Antrag für einen Bürgerentscheid ab.
Stuttgarter Grüne unterstützten die Proteste, aber die regierenden
Grünen im Bundestag stimmten im Dezember 2004 dem Projekt »S21« zu. Auf
Unkenntnis konnten sie sich nicht berufen, schließlich waren
baden-württembergische Grüne wie Winfried Hermann im Bundestag, und
Rezzo Schlauch war sogar Parlamentarischer Staatssekretär im
Wirtschaftsministerium. Auch im Aufsichtsrat der Bahn hatten die Grünen
einen Vertreter, den Bundestagsabgeordneten Albert Schmidt, auch der
nickte dort »S21« ab. (&)
Angst vor »Eskalation«
2009 profitierten die Grünen vom wachsenden Widerstand gegen »S21« und
wurden stärkste Fraktion im Gemeinderat (25,3 Prozent). Die rot-grüne
Bundesregierung war seit vier Jahren beendet und die grüne Zustimmung zu
»S21« im Bundestag, sofern je bekanntgeworden, war offensichtlich
vergessen. Auch die Liste Stuttgart Ökologisch Sozial (SÖS), die dem
Widerstand entsprang, stieg auf 4,6 Prozent sowie die Linkspartei, die
sich gleichfalls gegen »S21« gestellt hatte (4,5 Prozent).
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Die herrschende Meinung ist üblicherweise die Meinung der Herrschenden.
Wer eine Volksabstimmung gewinnen will, muß in den Medien ausführlich
und regelmäßig zu Wort kommen. Die »S21«-Gegner haben keine solche
Freiheit. So wird die Volksabstimmung »zum Herrschaftsmittel der
Bourgeoisie. Sie allein verfügt über den Apparat der
Bewußtseinsindustrie und Stimmungsmacherei.«3
Anstatt den Widerstand solidarisch zu unterstützen und voranzutreiben,
hat man ihn auf falsche Hoffnungen gelenkt. Wenn dann bei einer
möglichen künftigen Volksabstimmung die Baden-Württemberger, wie zu
erwarten, mehrheitlich für »S21« stimmen, sind die Grünen aus dem
Schneider. Ihnen nützt es. Denn dann hat es am Ende genausoviel soziale
Bewegungsmacht gegeben, wie sie brauchten, um an die Regierung zu
kommen. Exakt das ist ja auch die Funktion von Bewegungen in den Augen
der Grünen.
Hätten sie die Bewegung aber nicht auf einen Schlichterspruch hin
orientiert und nicht auf eine Volksabstimmung, hätte sich der Widerstand
vielleicht in seiner größtmöglichen Breite entfalten und durch seine
Gegenmacht eine Landesregierung zum Projektende zwingen können.
Verrat ist eine Kunst, die die Grünen meisterlich beherrschen.
Widerstand zu spalten und zu schwächen, können sie wie keine zweite
Partei im Land. Das haben sie schließlich von der Pike auf gelernt. (&)
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»Man hat keine Angst mehr vor uns«, sagt der mögliche künftige grüne
Ministerpräsident Kretschmann. Ja, leider. »Wir stehen für
Verläßlichkeit.« Genau das ist das Problem. Die herrschenden Kreise
können sich fest darauf verlassen, daß die Grünen nur wegen »S21« oder
Atomanlagen kein Amt riskieren, sie können längst sicher sein, daß die
Grünen die herrschende Wirtschaftsweise nicht mehr infrage stellen und
daß sie »für deutsche Interessen« sogar mit in den Krieg ziehen. Was ist
da schon ein Bahnhof?
Jutta Ditfurth: Krieg, Atom, Armut. Was sie reden, was sie tun: Die
Grünen. Rotbuch Verlag, Berlin 2011, 288 Seiten, 14,95 Euro,
Informationen unter:
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Anmerkungen
1 Am »blutigen Donnerstag« (30.9.2010) hatte die Stuttgarter Polizei
einen Massenprotest gegen »S21« brutal angegriffen. Bilanz: Hunderte
(teils schwer) verletzte Demonstranten. (Anm. d. Red.)
2 Rüdiger Soldt: »Anstoßen mit Widerstandsbier«, in: Frankfurter
Allgemeine Zeitung v. 8.10.2010.
3 Hermann Gremliza: »Em ra«, Gremlizas Kolumne, in: konkret 11/2010, S.8f.
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Gustav Uhlmann